Einseitige Ertaubung und binaurales Hören.
Der Physiker Dr. Reinhold Schatzer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den audiologischen Grundlagen des Hörens und der Erforschung implantierbarer Hörsysteme, insbesondere bei einseitiger Ertaubung (Single-Sided Deafness, SSD).
Im Experteninterview erläutert er die besonderen Herausforderungen für Menschen mit einseitiger Ertaubung und erklärt, wie sich SSD auf deren Lebensqualität auswirkt.
HB: Herr Dr. Schatzer, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema einseitige Ertaubung (Single-Sided Deafness, SSD). Was sind die größten Herausforderungen für Betroffene im Alltag?
RS: Die einseitige Ertaubung, also ein hochgradig schwerhöriges Ohr und ein kontralateral normalhörendes, führt zu einer Reihe von Einschränkungen, vor allem beim Richtungshören und beim Verstehen in lauter Umgebung. Betroffene müssen sich beim Hören deutlich mehr konzentrieren und ermüden in der Folge schneller.
HB: Betrachten wir kurz die Grundlagen: Was passiert beim binauralen Hören?
RS: Beim binauralen Hören summieren sich zum einen die Signale beider Ohren im Gehirn. SSD-Patient*innen fehlt diese binaurale Lautheitssummation. Sie benötigen einige dB mehr an Schalldruck, um dieselbe Lautstärke zu empfinden wie normalhörende Personen. Das macht das Hören von leisen Geräuschen schwieriger.
HB: Wie wirkt sich SSD auf das Richtungshören aus?
RS: Das Gehirn nutzt Zeit- (ITD) und Pegelunterschiede (ILD) zwischen beiden Ohren zur Schalllokalisation. Bei einseitiger Ertaubung fehlen diese Informationen, wodurch die räumliche Orientierung stark eingeschränkt ist.
HB: Wie wirkt sich monaurales Hören auf das Sprachverstehen aus?
RS: SSD-Patient*innen verstehen in lauter Umgebung signifikant schlechter. Ein Grund liegt im Kopfschatteneffekt. Unser Kopf wirkt wie eine akustische Barriere. Wenn ein Nutzschall auf das ertaubte Ohr trifft, dämpft der Kopf die Übertragung an das normalhörende Ohr und verschlechtert das Signal-Rausch-Verhältnis. Ein zweiter Grund liegt in der fehlenden binauralen Störgeräuschreduktion, bei der das Gehirn die Redundanz der Signale beider Ohren nutzt, um Störgeräusche weg zu filtern. Diese Defizite erschweren für SSD-Patient*innen das Sprachverstehen in lauter Umgebung deutlich.
HB: Gibt es Unterschiede in der Behandlung von Kindern und Erwachsenen mit SSD?
RS: Die empfohlene Behandlung per se bleibt gleich, der wesentliche Unterschied liegt am Zeitpunkt der Intervention. Wenn Kinder mit angeborener SSD zu spät behandelt werden, zeigen sie häufig Sprachentwicklungsverzögerungen, soziale Auffälligkeiten sowie eine eingeschränkte neuronale Entwicklung der betroffenen Hörbahn. Eine frühzeitige Behandlung ist für Kinder mit angeborener SSD besonders wichtig.
HB: Für die Behandlung von einseitiger Ertaubung werden häufig Knochenleitungshörsysteme eingesetzt. Was können diese leisten?
RS: Systeme wie CROS oder BAHA leiten Schall vom betroffenen auf das normalhörende Ohr um. Sie liefern jedoch keine echte binaurale Hörversorgung. Außerdem wirken sie auch nicht gegen Tinnitus im ertaubten Ohr, der bei SSD häufig auftritt und die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigen kann.
Zur Person:
Dr. Reinhold Schatzer ist Senior Research Engineer bei MED-EL und Experte für Schallkodierung und Signalverarbeitung.
Detaillierte Patientenfälle zur individuellen Hörversorgung bei einseitiger Ertaubung finden Sie hier:
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Experteninterview
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